Donnerstag, 11. Oktober 2012

Produktionsnotizen

Meine Grossmutter lügt. Das weiss ich. Aber sie weiss es nicht. Nicht mehr. Schon Ewigkeiten nicht mehr. Aber ich habe sie ertappt. Als es um eine Familienangelegenheit ging. Sie tut das nicht extra. Dafür fehlt ihr das Talent. Es ist ein wenig schlimmer. Sie hat sich meiner Ansicht nach daran gewöhnt. Neulich war ich so wütend auf sie, dass ich sie besuchen fahren wollte, um ihr ein für allemal die Meinung zu sagen. Aber jetzt sitze ich da. Wie sagt man einem Anderen die Wahrheit. Das ist das Dilemma. Ein Wort steht gegen das Andere. Völlig zu Recht. Ein Richter vielleicht? Wenn jede Grossmutter in Zukunft einen Richter braucht, wird dieser Staat nicht mehr zu retten sein.
Was erwartet man denn überhaupt? Wenn Angeklagte uneinsichtig sind und sie ein Gericht bestraft hat, werden sie sich vielleicht beugen aber mehr auch nicht. Sie werden sich als Opfer sehen, als Verratene. Sie werden nach der Strafe nicht ein anderer Mensch geworden sein. Dabei sollte Strafe nachweisbar von Nutzen sein, sonst lohnt sie nicht. Für die Gesellschaft einerseits aber genauso für das Individuum. Wie sage ich ihr also was ich denke ohne ungerecht zu sein? Dabei fällt mir was anderes ein.
Kein nützlicher Satz, kein abschliessender Aha-Effekt. Reicht es denn nicht, dass ich es weiss, dass sie mir nicht die Wahrheit, sondern ihre umgedeutete Version davon erzählt? Da muss ich mich fragen, liebe ich sie überhaupt genug um etwas derart Grosses von ihr zu wollen? Und wenn ich sie lieben würde, hätte ich dann den Mut, das Gegenteil von dem zu fordern, was sie mich wissen lässt? Ich kann mich abwenden und einer Gleichgültigkeit nachgeben, ich kann mich zuwenden und komme nie an.
Wenn sie stirbt, ist alles ohnehin vorbei. Dann gibt es aber auch kein zurück mehr. Dann kann ich sie nie wieder fragen, wie es dazu kam, dass sie mit ihren fiesen kleinen Lügen angefangen hat. Dann kann ich mich nie mehr von ihren Sätzen einlullen lassen. Dann bin ich ganz allein mit meinem Unbehagen. In solchen Fällen hilft vielleicht der Wunsch. Was wünsche ich mir wirklich ist die Frage. Und ist es dann meine Grossmutter, die mir den Wunsch erfüllen kann?